In Zeitlupe laufe ich barfuß durch den Wald. Unter meinen Füßen fühle ich einen feuchten Mix aus alten Blättern und Modder. Humoser Boden, so nennt das der Fachmann. Aber Modder passt definitiv besser zu dem, was sich da gerade zwischen meine Zehen schiebt. Wann bin ich eigentlich schonmal barfuß durch den Wald gelaufen? Eigentlich nie – so ist das eben, wenn man als Kleinstadtkind aufwächst, denke ich. Dabei soll ich doch gar nicht denken. Nur fühlen und lauschen und atmen. Mit anderen Worten: im Wald baden.
Das Konzept des Waldbadens kommt aus Japan und heißt dort shinrin yoku. Wissenschaftler haben diesen Mix aus Spaziergang, Meditation und Achtsamkeitsübungen entwickelt, um gestresste Großstädter zu kurieren, die von der Hektik des Alltags krank geworden sind. Inzwischen wird shinrin yoku auch präventiv eingesetzt, und die japanische Regierung fördert Forschungsprojekte zur heilenden Wirkung des Waldes. Gerne hätte ich Waldbaden im Mutterland desselben ausprobiert, als ich dort für ein Jahr lebte. Aber trotz mehrfacher Versuche hat es nie geklappt. Inzwischen ist das Phänomen aber auch bei uns angekommen. Und so habe ich mich aufgemacht, um knappe drei Tage in der Nähe von Frankfurt in den Wald zu gehen.
Der Wald ruft
Als ich am Seminarhotel ankomme, bin ich maximal gestresst. Eigentlich wollte ich schon vor einer Stunde hier sein, aber die Bahn ist halt … die Bahn. Zum Glück hatte ich einen Zeitpuffer. Also schnell einchecken und ab in den Seminarraum. Wenn Waldbaden entspannt, dann bitte jetzt sofort! Wir sind 16 Frauen plus eine Seminarleiterin. In der Vorstellungsrunde wird deutlich, dass wir uns zwischen zwei Polen bewegen: Auf der einen Seite die Outdoor-Sportler, die im Laufe der drei Tage für jede Gelegenheit das passende Multifunktions-Outfit aus dem Koffer ziehen. Auf der anderen Seite wird es ziemlich spirituell. Ich sitze irgendwo dazwischen und will eigentlich nur mal raus ins Grüne. Wir beginnen mit etwas Theorie, während draußen ein Sturzregen runtergeht. Der ist zum Glück nicht von allzu langer Dauer, und wir können uns der Praxis widmen. Es geht in den Wald.
Der Regen ist zu einem Tröpfeln geworden, und wir stellen uns zwischen die Bäume, schließen die Augen und lauschen den Regentropfen, spüren sie auf unserem Gesicht. Anschließend die erste kreative Aufgabe: Wir sollen entlang des Weges nach schönen grünen Dingen suchen (möglichst, ohne etwas abzureißen, es liegt ja genug herum) und mitnehmen. Aus Stöcken legen wie anschließend ein Netz und füllen dessen Flächen mit unseren Funden, immer schön sortiert: Moos zu Moos, Farn zu Farn. Ich merke schnell, dass ich mich mit dem Wald plötzlich ganz anders auseinandersetze, ihn wirklich sehe. Und nicht nur durchgehe, während ich im Kopf ganz woanders bin. Wir arbeiten schweigend, und mir fällt auf, dass mich das Rascheln der Regenjacken stört, es gehört nicht hierhin, ist kein Geräusch des Waldes.
Die nächste Aufgabe: Aus Ästen und Bastbändern sollen wir einen Bilderrahmen basteln und ihn anschließend an einer Stelle platzieren, an der wir etwas sehen, das einen Rahmen verdient. Ich entscheide mich für einen bemoosten Baumstamm und stelle schnell fest, dass diese Übung von jeder Teilnehmerin anders interpretiert wird. Ein Rahmen muss nicht viereckig sein, ich sehe halbrunde, runde, dreieckige und um Wurzeln geschlungene Rahmen. Zum Abschluss sucht sich jede einen Baum und versucht, ihn mit allen Sinnen zu erfassen. Wie riecht er, wie fühlt er sich an? Was kann ich hören? Aus “meinem” Baum fallen Regentropfen. Wenn ich in seine Krone schaue, sieht es so aus, als würden die Tropfen sich in Zeitlupe aus den Blättern lösen und dann beim Fallen immer schneller werden. Ich finde diesen Anblick ziemlich hypnotisierend.
Wir machen uns auf den Rückweg. Der Regen hat inzwischen ganz aufgehört, und endlich hört man auch wieder Vögel singen. Das hat mir gefehlt! Der Wald ist nur echt, wenn es darin zwitschert. Ein Reh lugt ein paar Meter weiter aus dem Geäst, fragt sich wahrscheinlich, was wir hier alle machen. Als wir ins Seminarhotel zurückkommen merke ich: mein Stress ist weg! Und nicht nur das, ich bin todmüde. Aber auf eine angenehme Art. Das mit der Entspannung funktioniert schonmal.
Kunst von Mutter Natur … … und von mir
Kunstvolle Natur
Am nächsten Tag starten wir mit ein paar Atemübungen und einem Augentraining im Wald, dann werden wir wieder kreativ. Ich ziehe los mit einer Karte, auf der ein Streifen doppelseitiges Klebeband angebracht ist. Daraus soll ich nun was machen. Ich genieße es, alleine durch den Wald zu streifen und ihm zuzuhören. Das Geplapper von 16 Frauen ist anstrengend auf Dauer. Abseits der Wege sammle ich Tannengrün, Farn und Moos, dann setze ich mich auf eine Bank, um daraus meine Karte zu machen (siehe oben). Während ich kreativ bin, raschelt es hinter mir. Ich blicke kurz in die Augen eines Rehs, dann rennt es weg. Die Karte ist fertig, aber ich habe noch ein Stück Rinde, in das Borkenkäfer ein kunstvolles Muster gefräst haben. Und freundlicherweise ein Loch, durch das ich eine Bastschnur ziehen kann. Finde ich noch weitere Dinge, die ich auffädeln kann? Erstmal finde ich zufällig ein Eichhörnchen. Das sitzt hoch im Baum, fühlt sich gestört und motzt mich deswegen an. Was bei Eichhörnchen schrecklich niedlich aussieht. Bei einer Tasse Tee zwischen den Bäumen tauscht sich die Gruppe am Ende des Vormittags aus. Manche haben gedichtet, andere gemalt oder so wie ich mit Materialien des Waldes etwas gestaltet. Der Wald inspiriert jeden auf andere Weise.
Achtsam geht es in den Nachmittag, mit einer Gehmeditation. Das ist der Moment, wo wir die Schuhe ausziehen. Ganz langsam sollen wir barfuß durch den Wald gehen. Langsam ist aber überhaupt nicht mein Tempo, und anfangs stresst es mich, dass ich so viel schneller bin als die anderen. Dann werfe ich einfach diesen Teil der Instruktionen über Bord. Langsam ist relativ, und für meine Verhältnisse gehe ich nun relativ langsam, auch wenn ich schneller bin als die anderen. Und jetzt, wo ich mich nicht mehr aufs Tempo konzentrieren muss, kann ich endlich den Wald genießen. Und denke, dass man öfter barfuß gehen sollte. Nicht nur im Wald.
Achtsam geht es weiter. Wir setzen uns ins Laub (das leider noch ein bisschen feucht ist, wir erfahren den Wald nicht nur mit allen Sinnen, sondern auch allen Körperteilen) und sollen uns intensiv mit etwas auseinander setzen, das uns inspiriert. Das kann ein Blatt, ein Ast, ein Tannenzapfen oder ein Stück Rinde sein – jede sucht sich etwas aus. Ich bleibe der bemoosten Rinde treu (Moos wird viel zu sehr unterschätzt, finde ich!), und nehme ein Stückchen von einem toten Ast. Die tote Rinde selber riecht eigentlich nach nichts, aber das Moos drauf hat einen schönen frischen Geruch. Dafür hat die Rinde auf der Innenseite eine interessante Textur, fast wie eine Küchenreibe fühlt sie sich an. Wir nehmen uns sehr viel Zeit, um unser Stückchen Wald erst mit geschlossenen Augen zu erforschen, dann in Ruhe zu betrachten. Spaziergänger kommen vorbei und gucken spärlich. Am Abend bin ich wieder total geschafft, das Licht geht früh aus. Und dabei habe ich doch eigentlich gar nicht viel gemacht.

Schweigen im Walde
Der letzte Tag in der Badeanstalt Wald bricht an. Die Sache mit der Achtsamkeit wirkt auch abseits der Waldwege. Vor dem Seminarhotel entdecke ich eine malerische Komposition aus Wassertropfen auf großen Blättern. Wir gehen heute etwas weiter, zum Glück schweigend, ich kann den Wald genießen. Schließlich schlagen wir uns zwar nicht gerade in die Büsche, aber verlassen den Weg und verteilen uns zwischen den Bäumen. Wir starten mit einer Atemmeditation. Dann sollen wir uns an einen Baum lehnen und zur Abwechslung spüren, wie der atmet. Das ist jetzt nicht so meins. Ich weiß, dass Bäume auch atmen. Aber das spüren? Ich schaue stattdessen einem Käfer dabei zu, wie er durchs Laub kriecht. Auch sehr meditativ.
Eine letzte kreative Übung wartet auf uns. Jeweils zu viert sollen wir mit Materialien des Waldes etwas gestalten – ohne dabei zu reden. Das Schweigen im Walde mal neu interpretiert. Das Ergebnis meiner Gruppe sieht am Ende aus wie ein Tipi. Die Spitze schmücken ein paar Blätter. Für ein paar Minuten scheinen ein paar Sonnenstrahlen genau durch diese Blätter, die zu leuchten anfangen und unserem Zelt eher die Anmutung eines Tannenbaums verleihen. Dann wandert die Sonne weiter, und außer uns vieren hat es niemand gesehen.
Wir lassen das Seminar ausklingen mit einem Fußbad in einem Bach und einer Abschlussrunde unter Bäumen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartet, und habe mich vom Waldbaden überraschen lassen. Nach der Vorstellungsrunde hatte ich kurz befürchtet, dass es für meinen Geschmack zu spirituell werden könnte, aber tatsächlich war es vor allem kreativ. Das hat mir gut gefallen. Gleichzeitig waren die Tage im Wald ungemein entspannend. Es hat sich ein bisschen so angefühlt, als kommt man nach Hause. Was Sinn macht, wenn man bedenkt, dass der Mensch Jahrmillionen in und mit der Natur gelebt hat, bevor er anfing, Großstädte zu bauen. Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, ab jetzt öfter in den Wald zu gehen. Denn eines habe ich auf jeden Fall gelernt: er tut mir gut!