Wer regelmäßig notiert, wofür er dankbar ist, der wird zufriedener mit seinem Leben, weil er sich mehr auf positive Dinge konzentriert. So die Kurzversion, die in jeder zweiten Frauenzeitschrift zu lesen ist. Die wissenschaftliche Langversion liefert dazu die ergänzende Erklärung, dass es evolutionstechnisch hilfreich war, dass der Mensch über Millionen Jahre immer auf das Schlimmste vorbereitet war, das steigerte seine Überlebenschancen. Deswegen neigen wir bis heute dazu, eher das Schlechte als das Gute zu sehen. Dabei scheint es mir manchmal, als würde die Zukunft unserer Art inzwischen eher davon abhängen, dass wir eben nicht immer gleich der Welt Übles unterstellen und uns darüber öffentlich aufregen. Ich jedenfalls habe es ausprobiert und einen Monat lang ein Dankbarkeits-Tagebuch geführt.
Für das Dankbarkeits-Tagebuch gibt es verschiedene Varianten. Die einen schreiben alle sieben Tage das best-of der Woche auf, andere jeden Abend gleich drei Dinge, für die sie dankbar sind. Drei?! Ist das im (Arbeits-)Alltag wahrscheinlich? Ich lege mir lieber ein paar Joker zurecht, die theoretisch fast jeden Tag passen. Dass ich einer bezahlten Arbeit nachgehen darf, beispielsweise. Auch wenn die nicht immer glücklich macht, aber immerhin habe ich einen Job. Dass jemand Tisch und Bett mit mir teilt. Und in Zeiten, in denen die abendliche Fernsehwerbung ideenreich Hustenbonbons und -säfte inszeniert, kann man wohl auch dankbar sein um jeden Tag, an dem man öffentlichen Verkehrsmitteln entsteigt, ohne fremder Leute Bronchitis mitzunehmen. Nun denn, los geht’s!
Tag 1 – Montag
Es ist Montag, der Wecker klingelt gefühlt zwei Stunden zu früh, und ich bin gerade sowas von gar nicht dankbar für meine bezahlte Arbeit, derentwegen ich nun aus dem Bett muss. Außerdem habe ich Halsschmerzen. So viel zu Joker Nummer drei. Immerhin überrascht mich wenig später die Deutsche Bahn mit – oho! – Pünktlichkeit. Heute ist einer der wenigen Tage, an denen ich den Weg zur Arbeit in der kürzestmöglichen Zeit schaffe. Danke! Der Tag beginnt grau, aber kurz vor der Mittagspause reißen die Wolken auf und ich kann ein bisschen Sonne genießen. Danke! Und als ich nach Hause komme, ist das Abendessen vorbereitet und ein Tee für meinen geschundenen Hals aufgebrüht. Merci! Fazit nach dem ersten Tag: ist doch so schwer nicht!
Tag 2 – Dienstag
Die Bahn bringt mich wieder pünktlich zu Arbeit, aber die kann ich doch nicht jeden Tag loben. Ich muss demnächst in ein neues Büro ziehen. Aber weil ich gerade ziemlich viel zu tun habe, bietet eine Kollegin spontan an, ein paar Dinge für mich zu regeln, das spart mir einen halben Tag Bürokratie. Danke! Abends bin ich im Museum verabredet, um noch schnell eine Ausstellung zu sehen, bevor sie zu Ende geht. Wir haben nicht nur einen schönen Abend beim Bummel durch relativ leere Hallen. Es ist auch Happy Hour. Statt 24 Euro pro Person kostet es uns nur je sieben Euro. Danke, danke.
Tag 3 – Mittwoch
Heute merke ich, dass man der Bahn ruhig für Pünktlichkeit danken kann. Morgens kommt sie zu spät, abends wird mein Zug gleich umgeleitet. Das macht eine halbe Stunde zusätzlich mit der Straßenbahn, um nach Hause zu kommen. Aber ich habe Glück im Unglück: statt Straßenbahn persönlicher Chauffeur nach Hause, weil ich eine Mitfahrgelegenheit bekomme. Danke sehr! Der Zug wurde übrigens wegen eines Notarzteinsatzes auf der Strecke vor uns umgeleitet, da kann man doch dankbar sein, dass man selber den Notarzt nicht braucht. Und schließlich habe ich heute eine Einladung zum Kaffee bekommen. Merci!
Tag 4 – Donnerstag
Beim Mittagessen hat mich ein Kollege auf eine gute Idee gebracht. Danke! Ich wollte etwas eher aus dem Büro weg, um noch ein paar Dinge zu erledigen, und das hat nicht nur geklappt, die Bahn hat mich sogar pünktlich nach Hause gebracht. Und schließlich habe ich abends noch einen Platz in einem Seminar bekommen, das ich gerne besuchen möchte. Merci!
Tag 5 – Freitag
Wir verbringen ab heute ein paar Tage in Lissabon. Die Tatsache, dass wir es uns leisten können, mal eben in Portugals Hauptstadt zu fliegen, ist einen Dank wert. Ebenso die Tatsache, dass die Anreise problemlos klappt und uns die Stadt mit strahlendem Sonnenschein empfängt. Obrigado, wie der Portugiese sagt. Abends schicke ich mit einer Freundin ein paar WhatsApp hin und her, und sie bringt mich herzlich zum Lachen. Danke!
Tag 6 – Samstag
Die Sonne scheint über Lissabon, dazu ein strahlend blauer Himmel und die Tatsache, dass ich (quasi) am Meer bin – danke! Es gibt Tage, an denen selbst Lichtschutzfaktor 50 bei meiner sonnenempfindlichen Haut versagt, aber heute ist zum Glück keiner davon. Obwohl ich den ganzen Tag draußen bin, verbrenne ich mir nicht die Nase. Obrigado! Abends gehen wir in die ziemlich vollen Markthallen, aber finden trotzdem noch einen Sitzplatz – genau gegenüber von dem Stand, an dem wir auch essen wollen. Danke!
Tag 7 – Sonntag
Wir beginnen den Tag im berühmten Hieronymuskloster. Es ist nicht gerade leer, aber erträglich. Erst als wir gehen, wird es richtig voll. Glück gehabt! Schnell noch in die Kirche, die jetzt für Besucher öffnet, vorher fand dort ein Gottesdienst statt. Während alle den Altar knipsen, sehe ich an einer Wand das wunderbare Farbenspiel, dass die durch die bunten Fenster gegenüber einfallende Sonne hervorbringt. Außer mir sieht es kaum einer, dabei ist es ein zauberhafter Anblick. Danke! Etwas später suchen wir die Bushaltestelle für eine Linie, die offenbar nicht dort abfährt, wo wir mit der Straßenbahn angekommen sind. Einer der Verkäufer von Bootstouren nimmt sich Zeit und erklärt uns den Weg – obwohl wir keine Tour bei ihm buchen. Danke! Zum Abendessen gehen wir in ein kleines Fischrestaurant, an dem wir am ersten Abend zufällig vorbei gekommen sind, als wir ohne bestimmtes Ziel durch die Altstadt bummelten. Das Essen ist einfach, aber sehr, sehr lecker. Für diese Zufallsentdeckung sage ich: Obrigao!
Zwischenstand nach der ersten Woche
Es fällt mir nicht immer leicht, abends spontan drei konkrete Dinge zu benennen. An manchen Tagen muss ich doch ein bisschen nachdenken, was ich in mein Tagebuch schreiben soll. Und nicht jeden Abend habe ich unbedingt Lust, mir dazu Gedanken zu machen. Ich frage mich öfter, ob ich es mir zu schwer mache? Muss ich jeden Abend etwas anderes aufschreiben, als an den Vortagen? Sollte ich nicht öfter meine Joker zücken? Reicht es nicht, dafür dankbar zu sein?

Tag 8 – Montag
Ich will heute von Lissabon aus einen Tagesausflug nach Sintra machen. So recht komme ich morgens nicht in die Puschen und verlasse das Hotel später als geplant. Macht nix, denn der Zug hat 25 Minuten Verspätung. Wäre ich früh los, hätte ich bloß doof am Gleis gestanden. So hatte ich einen entspannteren Morgen. Danke! Nachdem ich tapfer zu Fuß zu zwei Burgen aufgestiegen bin (warum müssen die Dinger auch immer auf einer Anhöhe liegen?!), bin ich nach dem Sightseeing eigentlich zu müde, um noch eine halbe Stunde zum Bahnhof zurück zu marschieren. Und just, als ich Burg Nummer zwei verlasse, fährt der Linienbus zum Bahnhof vor. Danke! Während ich unterwegs bin, fällt mir auf, dass ich das ganze lange Wochenende schon nicht an die Arbeit gedacht habe. Schnell höre ich auf, daran zu denken, dass ich nicht an die Arbeit denke, denn sonst denke ich ja doch an die Arbeit. Und nicht an die Arbeit zu denken, ist ganz angenehm. Merci!
Tag 9 – Dienstag
Ich habe noch einen letzten halben Tag in Lissabon, und heute bin ich für ein paar Zufälle dankbar. Als ich mangels Anzeige/Ansage im Bus nicht sicher bin, ob ich an der nächsten Haltestelle raus muss, drückt jemand anderes zufällig aufs Stopp-Knöpfchen. Als der Bus langsamer wird, kann ich den Namen der Haltestelle lesen und ja, hier muss ich raus. Auf dem Flohmarkt finde ich zufällig schönes Töpferwerk, das gut zum restlichen Geschirr passt, und trotzdem heraussticht. Und als es anfängt, kurz aber heftig zu regnen, sitze ich zufällig gemütlich in einem Café und warte auf mein Mittagessen.
Tag 10 – Mittwoch
Nach einer viel zu kurzen Nacht (wir sind erst spät gelandet und mussten dann noch die Bahn nehmen) heißt es heute wieder früh aufstehen und ins Büro. Nein, dankbar fühlt sich anders an. Heute ist der erste Abend, an dem ich so gar eine Idee habe, was ich aufschreiben soll. Ich bin definitiv dankbar, als der Tag vorbei ist und ich nach Hause komme. Ich bin dankbar, als ich aufs Sofa plumpsen kann und keiner mehr was von mir will. Und ich bin dankbar dafür, früh ins Bett gehen zu können.
Tag 11 – Donnerstag
Zurück im Alltag, fällt es mir schwer, abends drei Dinge für dieses Tagebuch zu nennen. Alles ist so … normal! Aber darum geht es wohl gerade. Die Dinge eben nicht als gegeben betrachten, sondern sich bewusst werden, dass es einem gut geht im Leben. Also, was war heute? Ich bin in ein anderes Büro umgezogen, und damit ich nicht allzu lange von Computer-Netzwerk und Telefon getrennt bin, hat eine Kollegin im Vorfeld dafür gesorgt, dass alles in kürzester Zeit umgestöpselt ist. Danke! Nach dem Mittagessen habe ich mit einer Kollegin noch ein bisschen in der Januar-Sonne gesessen und ein Eis gegessen. War nett, danke! Und zum Abendessen machen wir eine Dose Sardinen-Paté aus Lissabon auf und denken nochmal an die schönen Tage in der portugiesischen Hauptstadt zurück. Obrigado!
Tag 12 – Freitag
Es ist Freitag, und weil ich freitags nicht arbeite, fällt es mir deutlich schwerer, am Ende des Tages drei Dinge zu nennen, für die ich dankbar bin. Die Sache ist definitiv einfacher, wenn man den ganzen Tag mit Menschen verbringt. Ich bastel an meinem Blog, genauer gesagt, am ersten Teil meiner Frachtschiff-Tagebuchs. Dankbar bin ich auf jeden Fall, dass ich die Sache mit den Slideshows hinbekommen habe, die gehören nämlich nicht standardmäßig zu den Optionen, die mein Blog so bietet. Außerdem ist der Gemüsemann um die Ecke aus dem Urlaub zurück, und ich freue mich, dass ich fast direkt vor der Haustür wieder erstklassiges Obst und Gemüse einkaufen kann. Danke! Und schließlich gehe ich noch am öffentlichen Bücherschrank vorbei (ich bin ein großer Fan dieser literarischen Kreislaufwirtschaft) und finde ein paar interessante Bücher für die Zugfahrten der nächsten Wochen.
Tag 13 – Samstag
Ich arbeite weiter an meinem Frachtschiff-Tagebuch und am späten Nachmittag kann es endlich online gehen. Danke! Das Eichhörnchen aus unserem Garten habe ich schon länger nicht gesehen und angefangen, mir Sorgen zu machen. Aber die ausgelegten Nüsse sind heute weg – es hopst also offensichtlich noch frohgemut durchs Leben und unseren Garten. Merci! Und schließlich werfe ich, die ich immer ein Rezept zum Kochen brauche, abends frisches Gemüse vom heimgekehrten Gemüsemann mit eine paar Resten zusammen, und das improvisierte Mahl schmeckt tatsächlich. Danke!
Tag 14 – Sonntag
Heute bin bin allein zu Hause. Jetzt wird es wirklich schwierig. Ich habe natürlich meine Joker noch. Fällt mir sonst nichts ein? Ach ja, die Bahn hat das Monatsticket abgebucht. Und weil die Mehrwertsteuer im Fernverkehr gesunken ist, ist mein ICE-Ticket jetzt 37 Euro billiger pro Monat. Macht genau 444 Euro im Jahr, die ich dadurch spare. Danke! Ich habe eine nette Mail von einer Bekannten bekommen. Merci! Und jetzt ziehe ich einen Joker: seit zwei Tagen habe ich nachts keinen Hustenanfall mehr (die Halsschmerzen von Tag eins hatten es in sich), auch dafür ein Dankeschön.
Halbzeit
Ich mache es mir wahrscheinlich immer noch zu schwer und will kreativer sein, als ich muss. Man kann auch für manche Dinge zwei Mal dankbar sein. Was mir deutlich auffällt: je mehr man mit anderen Menschen zu tun hat, umso größer die Chance, dass das einen Dank-würdigen Moment mit sich bringen.

Tag 15 – Montag
Es ist Montag, und die Dankbarkeit hält sich vor dem zweiten Kaffee in Grenzen. Kaum im Büro, fragen gleich zwei Kollegen, ob wir nicht mal wieder zusammen in die Mittagspause gehen sollen. Danke! Mit einer Freundin plane ich eine Woche Urlaub, und wir kommen ein Stück weiter in der Entscheidungsfindung und damit unserer Reise ein Stück näher. Merci! Und schließlich bekomme ich am Ende des Tages von einer Kollegin noch etwas geschenkt. Danke!
Tag 16 – Dienstag
Der Reiz des Neuen ist weg, der Alltag hat mich voll eingeholt, und ich habe so gar keine Lust, mir Gedanken zu machen, wofür ich dankbar bin. Manchmal kommt mir die ganze Aktion ein bisschen albern vor. Und heute versagt die Bahn auch noch so richtig, vollkommen genervt komme ich eine Stunde später nach Hause als ich sollte. Immerhin: als ich Heim komme ist das Abendessen fertig und die lange aufgeschobene Fahrt zum Getränkemarkt schon erledigt, es gab inzwischen nicht mal mehr eine einzige Flasche Wasser im Haus. Danke! Und nach so einer bescheidenen Heimfahrt einfach mal in den Arm genommen zu werden ist auch schön. Merci!
Tag 17 – Mittwoch
Meine Freunde von der Bahn haben es heute so gar nicht auf die Kette bekommen. Immerhin hatte ich den richtigen Riecher, der verspätete IC war gegenüber dem nicht ganz so verspäteten Regionalexpress die besser Wahl, der RE musste nämlich unterwegs warten, um uns vorbei zu lassen. Ich war zwar spät, aber hätte später kommen können. Wem muss ich dafür danken, meiner Intuition? Im Büro finde ich im Postfach eine Schreiben von der Verwaltung, mein Antrag auf einen Tag Heimarbeit pro Woche ist genehmigt. Macht einen Tag weniger Bahn-Frust. Danke! Schnell bei den Kollegen von der IT angerufen, und sie versprechen, bis Anfang nächster Woche die technische Ausstattung für das Arbeiten daheim fertig zu machen. Merci!
Tag 18 – Donnerstag
In der Mittagspause gehe ich mit meinem Lieblingskollegen zu meinem Lieblingsjapaner für mein Lieblingssushi. Das ist eigentlich schon drei Dankeschöns wert. Nach drei Tagen, in denen die Fernverkehrszüge wegen einer Baustelle umgeleitet wurden, kann ich heute endlich wieder mit dem Intercity nach Hause fahren. Man ist als Bahnkunde schon für so wenig dankbar! Und weil ich momentan nur vier Tage die Woche arbeite, ist Donnerstag der neue Freitag. Thank God it’s …. weekend!
Tag 19 – Freitag
Wie der Name schon sagt, habe ich freitags frei. Und wie schon in der Woche davor fällt es mir an diesen Tagen schwerer, Dinge zu finden, für die ich dankbar bin. Es ist definitiv einfacher, wenn man unter Menschen ist. Gut, dass ich es mir leisten kann, heute nicht ins Büro zu fahren, ist natürlich schonmal was, danke! Dann ziehe ich heute eine Spendenbescheinigung aus dem Briefkasten. Ich fördere seit vielen Jahren mit einem monatlichen Beitrag die Obdachlosenorganisation BODO, und eigentlich sollten wir alle ab und zu dankbar sein, dass wir ein Dach über dem Kopf haben. Und schließlich geht heute der zweite Teil meines Frachtschiff-Tagebuchs online, und nachdem ich echt lange an diesem Beitrag gearbeitet habe, bin ich froh (und natürlich dankbar), dass er nun fertig ist.
Tag 20 – Samstag
Heute wuselt das Eichhörnchen mal wieder durch den Garten. Ich freue mich immer, den kleinen Hopser zu sehen, das macht einfach gute Laune. Danke! Außerdem blühen die ersten Schneeglöckchen und verbreiten eine Vorahnung von Frühling. Merci! Abends telefoniere ich mit einer Freundin. Unsere bisherige Urlaubsplanung scheitert an ziemlich bescheidenen Flügen. Nach ein bisschen hin und her finden wir ein neues Ziel, auf das wir beide Lust haben. Ich freu mich schon. Danke!
Tag 21 – Sonntag
Ein Sonntag daheim, wir erledigen Dinge, die man eben so am Wochenende erledigt. Für Bügelwäsche kann ich nun wirklich nicht dankbar sein. Aber vielleicht dafür, dass unser Leben gerade so “normal” ist, keine Katastrophen, keine Krisen. Wenn die größte Sorge Bügelwäsche ist, dann geht’s doch. Ein bisschen bin ich auch dankbar, dass dieses Experiment schon zu drei Vierteln vorbei ist. Ehrlich gesagt, an manchen Tagen nervt es. Obwohl ich zugeben muss, dass es schon nicht schlecht ist, sich ab und zu zu fragen, wofür man dankbar ist. Es macht oft deutlich, dass viele selbstverständliche Dinge nicht für alle Menschen selbstverständlich sind, und man gerade dafür eigentlich dankbar sein sollte. Für diese Erkenntnis könnte ich eigentlich auch mal dankbar sein.

Tag 22 – Montag
Montag, Signalstörung – mehr muss ich nicht sagen, oder? In der Mittagspause gehe ich mit einem Kollegen essen, und wir bekommen noch so gerade einen guten Sitzplatz an einem Stand auf dem Markt, nach uns wird es dann richtig voll. Glück gehabt! Danke! Für mein Frachtschiff-Tagebuch bekomme ich erstes positives Feedback. Danke! Und einen schönen gemütlichen Abend darf man auch einfach mal würdigen. Merci!
Tag 23 – Dienstag
Der Tag im Büro war richtig, richtig mies. Und jetzt soll ich noch aufschreiben, wofür ich dankbar bin? Ernsthaft? Meine Frisörin hat nicht mit den Augen gerollt, als ich ein Bild gezückt und angekündigt habe, dass es mittelfristig so in etwa werden soll. Stattdessen bekam ich eine realistische Einschätzung und einen Schnitt in die richtige Richtung. Danke! Am Bahnhof habe ich Geld auf der Straße gefunden, merci! Und daheim wurden geduldig meine Büro-Klagen angehört. Danke, danke!
Tag 24 – Mittwoch
Nach dem Mittagessen lädt mich meine Lunch-Verabredung noch zu einem Kaffee ein. Danke! Nach Feierabend gehe ich mit einigen Kollegen zu einer Museumsführung, die wir nicht nur zum Sonderpreis bekommen. Wir werden auch noch von einer begeisterten Museumsmitarbeiterin herumgeführt, die selber auch Künstlerin ist und uns die Bilder ganz hervorragend erklären kann. Merci! Und schließlich bin ich am Abend dankbar, dass der Zug da hält, wo ich hin will. Wegen eines Bombenalarms war der Bahnhof tagsüber nämlich stundenlang gesperrt. Es gab übrigens keine Bombe, nur falschen Alarm.
Tag 25 – Donnerstag
Heute ist der erste Tag einer neuen Ära für mich: die Ära “Heimarbeit am Donnerstag”. Letzte Woche kam die Genehmigung meines Antrags, vor zwei Tagen die nötige technische Ausstattung, und ab sofort muss ich donnerstags nicht mehr in den Zug steigen, sondern kann vom heimischen Schreibtisch aus meinen Dienst versehen. Danke! Abends gehen wir zur neuen Show von Torsten Sträter. Es wird nicht nur ein sehr, sehr lustiger Abend (merci!), mein Parkplatz-Karma sorgt auch dafür, dass wir um die Ecke vom Veranstaltungsort eine freie Parkbucht finden. Danke!
Tag 26 – Freitag
Ich habe frei, die Sonne scheint, und vor dem Haus gehen ein paar Krokusse in Startposition, um in den nächsten Tagen zu blühen. Also einfach ein schöner Tag, der den Frühling erahnen lässt – danke! Bei meiner Recherche zum Thema Pendeln stoße ich auf einen Twitter-Account mit den lustigsten Bahn-Ansagen. Ich scrolle erst einmal eine Weile durch diese Sammlung und muss ein paar Mal sehr, sehr herzlich lachen. Merci! Und schließlich habe ich endlich eine Idee für ein Geburtstagsgeschenk, an dem ich schon länger grübel. Wurde auch Zeit. Danke!
Tag 27 – Samstag
Der Wecker geht früh, denn ich bin in Stuttgart verabredet. Mit einer Bekannten, die ich auf einer Reise nach Mexiko kennengelernt habe, will ich in eine Ausstellung zu den Azteken. Vorher Bahn-Lotto: kommt der Zug? Und wenn ja, wann? Er kommt pünktlich. Und ich nutze auf der Hinfahrt alles, was mir das BahnBonus-Programm in letzter Zeit an Gutscheinen in den Schoß geworfen hat: gratis Upgrade in die Erste Klasse, und dazu noch ein kostenloser Kaffe dank Verzehrgutschein. Der gute Mann im Bordbistro drängt mir sogar noch einen Schokoriegel auf, weil er auf den Gutschein kein Wechselgeld geben darf, aber findet, ich müsse der Bahn nichts schenken. Heute wird zurück geschröpft! Und weil ich auch noch ein Abteil für mich alleine habe, werden die drei Stunden Bahnfahrt recht angenehm. Danke! Im Museum gibt es samstags vor 12 Uhr eine gratis Karte für die Dauerausstellung obendrauf, wenn man in die Sonderausstellung geht. Danke! Es wird ein schöner Tag, die Ausstellung gefällt uns gut, wir Mädels haben uns viel zu erzählen, und im Museumscafé probieren wir noch aztekische Küche. Danke!
Tag 28 – Sonntag
Eben habe ich dieses Tagebuch von Mittwoch bis gestern nachgetragen. Abends hatte ich dazu meist keine Lust mehr und habe nur ein paar Notizen auf einen Zettel gekritzelt. Jetzt bin ich erstmal dankbar, dass heute der letzte Tag dieses Selbstversuchs ist. Dankbar bin ich außerdem, dass der Nistkasten, den wir letztes Wochenende aufgehängt haben und auf den ich vom Schreibtisch aus blicke, schon erste Interessenten lockt, während ich das hier tippe. Gute Chancen also, dass ich im Frühjahr hier was geboten bekomme. Und schließlich sollte ich zum Finale dieses Tagebuches wohl auch dankbar sein, dass ich in einem Land lebe, in dem ich die Freiheit habe, Selbstversuche wie diesen zu machen und darüber zu schreiben. Denn seien wir ehrlich, es gibt Länder, da kann nicht jeder einfach einen Blog starten.
Fazit
Jeden Abend zwangsweise drei Dinge aufschreiben, das ist auf Dauer nervig. Sehr nervig. Und langfristig wohl auch nicht realistisch. Was mir wesentlich alltagstauglicher scheint: abends kurz auf den Tag zurück blicken und einen Moment – groß oder klein – herausgreifen, für den man heute dankbar ist. Einfach, um sich bewusst zu machen, wie gut es einem eigentlich geht. Nach vier Wochen mit dem Dankbarkeits-Tagebuch kann ich jetzt nicht behaupten, dass meine Lebenszufriedenheit als Ganzes einen Sprung nach oben gemacht hätte, merke aber schon, dass ich bewusster registriere, was mir im Laufe des Tages Gutes widerfährt. Und ich bin deswegen selber auch eher geneigt, anderen Menschen einen Gefallen zu tun, weil ich sehe, dass man mir auch recht oft hilft. Von daher hat sich das Experiment durchaus gelohnt, und ich will versuchen, dann abendlichen Rückblick beizubehalten – nur ohne Schreibzwang.