Die Veröffentlichung dieses Blogs wäre fast gescheitert. Nicht, weil ich von der ganzen Technik keine Ahnung habe (drei Anrufe bei der Hotline meines Providers). Oder weil ich keinen blassen Schimmer von Grafikprogrammen habe, um ein Logo zu erstellen (ein Nachmittag mit ein paar Stempeln und dann einfach abfotografiert). Nein, nachdem das alles erledigt war, stand ich vor einer schier unlösbaren Aufgabe: ich sollte aus 4.265 Vorlagen für Websites genau die aussuchen, die ich in den nächsten Wochen, Monaten oder sogar Jahren nutzen will. Und diese 4.265, das waren nur die gratis Vorlagen. Fast jede schickt zusätzlich noch mindestens eine kostenpflichtige, erweiterte Version ins Rennen. Spontan verging mir die Lust an jeglicher Entscheidung.
Es kam, wie es kommen musste: ich habe Tage meines Lebens damit verbracht, diese Liste durchzusehen, habe Dutzende Designs installiert, ausprobiert und wieder gelöscht. Manchmal waren die Unterschiede zwischen zwei Vorlagen nur minimal und für den Laien unerheblich. Nicht selten habe ich im Gegenzug eine Vorlage verworfen, weil mich nichts weiter als eine Kleinigkeit daran störte. Die aber gründlich. Schlussendlich habe ich mich für ein eher minimalistisches Design entschieden, das mir wenig Möglichkeiten zur Modifikation bietet – aber das ist vielleicht auch besser so, denn sonst wäre ich wahrscheinlich noch lange nicht online.
Die Nudel-Konfusion
Auch wer keinen Blog starten will, muss jeden Tag unzählige Entscheidungen treffen. Wann ist so etwas Banales wie der Kauf einer Tüte Nudeln zu einem komplizierten Auswahlprozess geworden? Gefüllt oder nicht. Mit Ei oder ohne. Vollkorn oder lieber klassisch. Farbig oder vielleicht gleich Nudeln aus Linsen? Und das ist nur ein Punkt auf dem Einkaufszettel. Kein Wunder, dass ich nach dem wöchentlichen Großeinkauf meistens schlechte Laune habe. Größere Anschaffungen wie ein neuer Fernseher führen zu wochenlangen Vergleichen von Modellen und Preisen. Und spätestens zwei Wochen nach dem Kauf ärgert man sich schon, weil das Ding auf einmal zum Schleuderpreis zu haben ist. Oder plötzlich ein neues, besseres Modell auf dem Markt ist.

Es kostet unser Hirn ziemlich viel Energie, Entscheidungen zu treffen. Zu viel Auswahl macht es schlichtweg müde. Decision fatigue (Entscheidungsmüdigkeit) nennt sich das in der Fachsprache. Forscher haben herausgefunden, dass Supermärkte aus diesem Grund mehr Umsatz machen, wenn sie weniger Auswahl anbieten und es ihren Kunden damit leichter machen, den Einkaufszettel abzuarbeiten. Der durchschnittliche Erwachsene trifft jeden Tag etwa 70 Entscheidungen. Selbst eine simple Frage wie “Schatz, willst Du noch einen Kaffee?” befeuert die Neuronen in unserem Oberstübchen. Die große Wahlfreiheit, sie überfordert uns gründlich. Weswegen eine ganze Reihe erfolgreicher Menschen dazu übergegangen sind, die Zahl der täglich zu treffenden Entscheidungen zu reduzieren. Der verstorbene Apple-Gründer Steve Jobs trug immer einen schwarzen Rollkragenpullover zur Jeans. Facebook-Chef Mark Zuckerberg kennt man nur im grauen T-Shirt. Und Ex-Präsident Barack Obama trägt einfach immer einen blauen oder grauen Anzug. Diese Art von Uniform erspart es ihnen, morgens Energie auf die Entscheidung zu verschwenden, was sie heute anziehen wollen.
Weniger ist wirklich mehr
Aus reinem Selbstschutz sollten auch wir uns daher in der Kunst der Beschränkung üben. Wissenschaftler empfehlen dazu unter anderem, Entscheidungen zu bündelt. Also statt jeden Tag neu zu überlegen, was man kochen will, einfach einmal pro Woche eine Liste mit den Gerichten für die nächsten sieben Tage zusammenstellen. Mittlerweile gibt es sogar spezielle Kochbücher für diese Form der Planung. Gegen Entscheidungsmüdigkeit beim Einkauf helfen selbst auferlegte Regel. Man kann so zum Beispiel heimischer Ware immer den Vorzug vor importierten Produkten geben – damit werden es automatisch die Äpfel aus dem Alten Land und nicht die aus Neuseeland. Auch die tägliche Frage, was man anzieht, lässt sich vereinfachen. Es muss nicht gleich eine Uniform sein, eine bewusste Einschränkung der Auswahl kann auch schon helfen. Es gibt eine interessante Idee der amerikanischen Minimalistin Courtney Carver, die das Projekt 333 ins Leben gerufen hat. Dabei sucht man sich 33 Teile aus dem heimischen Kleiderschrank aus, die man in den nächsten drei Monate in unterschiedlicher Kombination trägt. Jedes Quartal wird passend zur Saison eine neue Auswahl aus 33 Teilen getroffen. Der Rest der Klamotten ist tabu. Funktioniert im Urlaub doch auch, wenn wir nur ein paar Lieblingsteile dabei haben. Wer es noch einfacher mag: die Journalistin Meike Winnemuth hat ein Jahr lang das selbe kleine blaue Kleid getragen und darüber gebloggt.
Zufällig ist meine Garderobe gerade sehr minimalistisch. Nachdem ich letztes Jahr eine 50 qm-Wohnung aufgelöst habe, um in ein 15 qm-Appartement in Kyoto zu ziehen, und ein Jahr später mit noch weniger Gepäck die Hälfte einer 60 qm-Wohnung bezogen habe, hängt nicht mehr viel im Kleiderschrank. Wenn ich nicht spätestens nach zwei Wochen die Waschmaschine anwerfe, habe ich im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr anzuziehen. Jedenfalls nichts sauberes. Und was soll ich sagen? Es ist ziemlich leicht, zu entscheiden, was ich anziehen will. Die Auswahl ist ja nicht groß. Besser noch: weil ich DEN MANN erst wecke, wenn ich das Haus verlasse, entscheide ich abends schon über die Klamotten für den nächsten Tag und lege sie zurecht, damit ich nicht im Dunkeln im Kleiderschrank wühlen muss. Seither laufe ich morgens auf Autopilot. Keine Klamotten-Entscheidung, und auch sonst ist alles schon klar. Ich habe eine feste Zugverbindung zur Arbeit, stehe immer an mehr oder weniger der gleichen Stelle am Bahnsteig und habe es zur goldenen Regel erklärt, Abteile mit Kegelclubs, die morgens vor sieben schon ein Piccolöchen stemmen, zu meiden. Bitte gehen Sie weiter, das wollen Sie nicht hören. Erst wenn ich im Büro ankomme, muss ich echte Entscheidungen treffen. Ich bin nicht sicher, ob ich auf dem Weg zur millionenschweren Konzerngründerin bin, weil ich der Klamottenfrage deutlich weniger Aufmerksamkeit schenke, als die Durchschnittsfrau. Aber es hat meinen verdammt frühen Morgen definitiv entspannt.
Wer hilft mir morgens bei der ersten schweren Entscheidung: „Stehe ich auf und rette die Welt“ – oder bleibe ich liegen und rette meine Nerven und die Umwelt vor mir?